Rosenheim – Nach der Diskussion um die Sicherheitslage in der Stadt: Ist die Gewaltbereitschaft wirklich gestiegen und wie versucht man sie dann in den Griff zu bekommen.

In der letzten Zeit wird immer wieder über die Sicherheitslage in Rosenheim an den Wochenende teils heftig diskutiert. Im Zuge der Ursachenforschung trafen wir uns mit Ludwig Binder, einem der Geschäftsführer von „neon“, einer Einrichtung zur Prävention und Suchthilfe in Rosenheim.

Bei der Einrichtung handelt es sich um eine gemeinnützige Stiftungsgesellschaft mit beschränkter Haftung, die ihre Dienste kostenlos und anonym, den Betroffenen zur Verfügung stellt. Dabei sei auch die Betreuung von Personen, die unter Alkoholeinfluß aber auch nüchtern, durch Gewaltstraftaten wie Körperverletzung auffällig werden, gemeint, so Ludwig Binder, Sozialpädagoge und systemischer Therapeut bei „neon“.

Rückblickend auf die letzten sechs Jahre, in denen er in Rosenheim durchgängig tätig war, könne er nicht von einem gestiegenen Gewaltpotential sprechen. Er selbst habe den tragischen Tod von insgesamt drei Personen in Rosenheim während dieser Zeit mitverfolgt. Auch derAlkoholkonsum sei rückläufig, so Binder, sowohl die insgesamt getrunkenen Mengen, als auch die Intensität des Trinkens, an sich gingen im Laufe der letzten Jahre zurück.

So müsse man den angeführten Statistiken stets mit einer gewissen Skepsis und natürlich auch mit dem nötigen Hintergrundwissen entgegentreten. Schlagworte wie“Komasaufen“, „Binge-Drinking“ oder „Alkoholvergiftung“ müssten sehr differenziert betrachtet werden. „Jeder der bei einer Gelegenheit, unabhängig vom zeitlichen Rahmen, mehr als 1,6 Liter Bier oder 0,8 Liter Wein oder 0,2 Liter harten Alkohol zu sich nimmt, fällt laut Definition in die Kategorie der sogenannten „Koma-Säufer“; Und der Pegel bei den mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingelieferten Jugendlichen liegt im Durchschnitt bei 0,8 Promille. Klar, dass da die Fallzahlen von 2001 bis 2010 um 400% gestiegen sind!“ so Ludwig Binder zum Konsumverhalten. Ein Indiz dafür, dass in diesem Bereich auf jeden Fall eine Sesibilisierung stattgefunden habe.

Was die Gewalt oder die Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen angehe, habe sich nicht viel verändert, so Binder. Es habe lediglich eine starke Verschiebung in den öffentlichen Raum stattgefunden. Kurzlebige aber temporeiche Berichterstattung und die enorm gestiegene Vernetzung mittels Mobilfunk und Internet, rückten solche Vorfälle viel schneller und plakativer in das Blickfeld von einer größeren Menge an Beobachtern. „Früher hast Dich geschlagen, vielleicht danach wieder vertragen und das wars. Heute braucht sowas nur ein Unbeteiligter mitkriegen, einen Post machen und schon ist die Kette in Gang gesetzt!“, meint der Sozialpädagoge. Darüber hinaus sei auch das Anzeigeverhalten gestiegen, mehr kleinere Fälle würden eben meist von Unbeteiligten an die Polizei gemeldet, was grundsätzlich auch so richtig sei. Die Verlagerung in den öffentlichen Raum zeige zudem, dass der Jugendschutz in den Bars und Discotheken gut greife, so Binder, warum sonst spiele sich soviel auf der Straße ab.

„Zum Glück funktioniert die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft bei uns sehr gut. Wir bekommen viele auffällig gewordene Jugendliche zugeteilt und sehen die meisten dann auch wirklich nur ein Mal,“, erzählt der Geschäftsführer von „neon“. Dabei sei klar zu beobachten, dass 3/4 der „Täter“ männlich seien und davon wiederum 80% alkoholisiert. „Es findet hier aber eine weitere Verschiebung statt. Straftäter kommen immer mehr aus sozial gefestigten Strukturen.“

Grundsätzlich sei aber schon zu beobachten, dass es einen Zusammenhang zwischen der Schwere der Tat und dem Grad der seelischen Beeinträchtigung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gebe. Und dementsprechend könne auch eine simple Bestrafung nur in den seltensten Fällen zum Erfolg führen. „Man muss sich das so vorstellen. Ein Täter hat in seiner Entwicklung Schaden genommen, ob seelisch oder körperlich. Wenn ich den jetzt zusätzlich bestrafe, verstärke ich diesen Schaden ja nur noch! Und dann geht die Gewaltspirale weiter,“ so Ludwig Binder. Das sei aber „kein Aufruf dazu, Täter, überspitzt gesagt, zu belohnen“, es solle nur die Komplexität und Wechselwirkungen der unterschiedlichen Faktoren verdeutlichen. Es sei wichtig, den Betroffenen soweit zu bringen, dass er selbst die Fehler in seinem Handeln erkenne. „Deswegen gehe ich gerne mit meinen Leuten klettern. Und dann hängt er mal zehn Meter über dem Boden in der Sicherung, dann kann man sich unterhalten.“

Artikel von Sascha Ludwig für rosenheim24.de